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Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen

19.04.2021

Interdisziplinäre Leitlinie unter Federführung der DGKJ u.a. zu wichtigen Parametern, Kommunikationsstrukturen und Off-Label-Use.

Kinder sind durch Medikamentenfehler besonders gefährdet, denn durchweg muss für sie die korrekte Dosis individuell berechnet werden und zudem müssen altersgruppenspezifische Besonderheiten beachtet werden. Gerade im Notfall ist das eine große Herausforderung, denn angesichts der Patientenvielfalt vom Neugeborenen bis hin zum großen Jugendlichen kann hier nicht auf eine vertraute „typische“ Dosis gesetzt werden. Eine aktuelle Leitlinie analysiert Mechanismen von Fehlern bei der Pharmakotherapie und entwickelt einfach umsetzbare und wirksame Empfehlungen zur Verbesserung der Arzneimittelsicherheit bei Kindernotfällen. Zudem verteidigt und legitimiert sie einen evidenzbasierten Off-Label-Use.

Die AWMF-Leitlinie richtet sich an alle Versorger von klinischen oder prähospitalen Notfallsituationen.

Die S2k-Leitlinie zur „Medikamentensicherheit bei Kindernotfällen“ identifiziert Strukturen und Mechanismen, die die Wahrscheinlichkeit von Medikationsfehlern bei Kindernotfällen erhöhen, und benennt Maßnahmen dagegen: „Die Empfehlungen wurden so gewählt, dass sie möglichst kurzfristig und mit einfachen Mitteln angewendet werden können. Viele der oft folgenschweren Medikamentenfehler könnten durch einfach umzusetzende Maßnahmen und die Verwendung von simplen Hilfsmitteln wie Tabellen oder Linealen vermieden werden“, betont Priv.-Doz. Dr. med. Jost Kaufmann, der die Leitlinie für die federführende Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ) initiierte und koordinierte.

Für die gemeinsame Erarbeitung haben sich 15 Fachgesellschaften, Berufsverbände und Interessenvertretungen zu einem großen interdisziplinären Arbeitskreis zusammengeschlossen. Von der Leitlinie erwarten sie, dass mit der Umsetzung der empfohlenen Maßnahmen die Patientensicherheit bei der Versorgung von Kindern in akuten Notfallsituationen deutlich steigen wird.

Schlüsselparameter: Gewicht des Kindes

In pädiatrischen Notfallsituationen wird ausnahmslos anhand des Gewichts dosiert, dennoch wird der Gewichtsermittlung vor allem im prähospitalen Alltag nicht ausreichend Bedeutung beigemessen. Damit ist die Therapie, insbesondere die mit hochpotenten Medikamenten, mit dem Risiko einer gefährlichen Über- oder Unterdosierung behaftet.

„Die Kenntnis des Gewichts ist somit ein simpler Parameter mit großer Wirkung für die Medikamentensicherheit“, so Kaufmann. Dennoch ist in den bundesweit nahezu flächendeckend eingesetzten, standardisierten Notarzteinsatzprotokollen bis heute kein Feld für die Angabe des Gewichts vorgesehen. Dies trägt dazu bei, dass bei bis zu 97% der Notarzteinsätze, bei denen ein Kind eine intravenöse Medikation erhalten hat, kein Gewicht in den Einsatzprotokollen dokumentiert wird.  

„In einer deutschen Großstadt wurde auf den Vordrucken das Feld `Gewicht´ hinzugefügt, was die Dokumentation bei Kindern mit Medikamentengaben nahezu verzehnfachte. Zusätzlich hatten weitere Maßnahmen zur pädiatrischen Arzneimittelsicherheit im Rettungsdienst stattgefunden, und die Rate an schwerwiegenden Fehlern konnte mehr als halbiert und beim Adrenalin um fast 80% reduziert werden“, berichtet Dr. Kaufmann. Die Leitlinie stellt fest, dass neben der Angabe durch die Eltern längenbezogene Methoden zur Gewichtsschätzung verwendet werden sollen.

Grundsätzlicher Verzicht auf „Off-Label-Use“ gefährdet Kinder

Der Leitliniengruppe lag es aber auch am Herzen, eine klare Positionierung zum „Off-Label-Use“ in der pädiatrischen Notfallmedizin zu formulieren: „Ein `Off-Label-Use´ ist nicht unsachgemäß, illegal oder kontraindiziert, sondern kann die bestmögliche Therapie darstellen. Ein grundsätzlicher Verzicht auf `Off-Label-Use´ gefährdet Kinder und macht eine sachgemäße Behandlung unmöglich“, heißt es in der Leitlinie.

Die prähospitale und innerklinische Behandlung von Notfällen bei Kindern sollte durch Therapieentscheidungen gelenkt werden, die auf wissenschaftlicher Evidenz und Erfahrung basieren und nicht allein aufgrund des Zulassungsstatus erfolgen. Damit gibt es erstmalig im deutschsprachigen Raum ein derart klares Statement, wie es ein paar Jahre zuvor auch von der American Academy of Pediatrics publiziert wurde. Hiermit soll den Versorgern die kategorische Sorge vor einem „Off-Label-Use“ genommen und damit die Möglichkeit gegeben werden, eine rein evidenzbasierte Entscheidung zu treffen.

Im Zentrum dieses Abschnitts der Leitlinie steht eine Tabelle von Off-Label-Medikamenten für den Kindernotfall. Diese Liste, die vor allem von Prof. Dr. Wolfgang Rascher und Prof. Dr. Antje Neubert (beide in der DGKJ-Arzneimittelkommission) erarbeitet wurde, zeigt Dosierungsempfehlungen inklusive der zugrundeliegenden Referenzen für die genannten Empfehlungen. Damit liegt eine zentrale pharmakologische Referenz bei Kindernotfällen vor, die Ärztinnen und Ärzten eine klare und verlässliche Absicherung für die Medikamentengabe bietet.

Basis: Kommunikation und Checklisten

„Der Blick in die Dosierungstabelle sollte so selbstverständlich sein wie die Nutzung einer Pilotencheckliste im Flugverkehr“, vergleicht Dr. Kaufmann. Der Zusammenhang von professioneller Kommunikation und erfolgreicher Fehlerkultur wird in der Leitlinie ebenfalls thematisiert: Die Rückversicherung vor jeder Medikamentengabe sowie eintrainierte Kommunikationsroutinen, die eindeutig, klar und vollständig sind und laut wiederholt und bestätigt werden, sind geeignet, um teamorientierte Abläufe zu etablieren und überholte hierarchische Strukturen zu ersetzen.

Ziel: Vigilanz erhöhen

Ein Beispiel hierfür ist die Einbindung des gesamten Teams und die Erhöhung der Vigilanz durch feste Routinen. Als geeignetes Raster wird hierfür die „5-R-Regel“ genannt: „Vor jeder Medikamentengabe soll von mindestens 2 Personen geprüft werden, dass es sich um das richtige Medikament, in der richtigen Dosis, zum richtigen Zeitpunkt, mit dem richtigen Verabreichungsweg und für den richtigen Patient handelt“, erläutert Kaufmann. Zudem empfehlen die Verfasser weitere Sicherungsstrukturen, wie z.B. die Kontrolle über Dosierungstabellen und andere Hilfsmittel oder die unmittelbare telefonische Rücksprache mit pädiatrischen Expert*innen.

Nach mehr als zweieinhalbjähriger Arbeit konnten die in der S2k-Leitlinie zusammengestellten Empfehlungen sämtlich mit 100 Prozent Konsens von den 22 Expert*innen und den Präsidien der 15 beteiligten Gesellschaften freigegeben werden.

Die im März veröffentlichte Leitlinie ist auf der AWMF-Webseite abrufbar. Dort findet sich auch eine komprimierte Kurzfassung: https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/027-071.html

 

 


Pressekontakt 

Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e.V. (DGKJ)
Dr. Sybille Lunau
Chausseestr. 128/129 | 10115 Berlin
Tel. +49 30 3087779-14
presse(at)dgkj.de www.dgkj.de

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