Beitrag_Oommen-Halbach_MoKi_05_2023



Interdisziplinäre Forschung zu Aufarbeitung und Bewältigung von DDR-Heimerfahrung (1949–1990). Das Projekt Testimony

[Beitrag Monatsschrift Kinderheilkunde 05/2023, Mitteilungsseiten.]

Ursula Burkowskis autobiographische Monographie „Weinen in der Dunkelheit“ (1991) löste eine öffentliche Debatte aus, die erstmals konkret die Perspektive früherer Heimkinder in der DDR in den Blick nahm. Seitdem sind zahlreiche Biographien und Erfahrungsberichte ehemaliger ostdeutscher Heimkinder erschienen. Erste wissenschaftliche Publikationen folgten, die das System der Jugendhilfe der DDR, das Konzept der pädagogischen Umerziehung in DDR-Kinderheimen sowie die Jugendwerkhöfe, insbesondere den Geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, als „schwerstes Repressionsmittel in der staatlichen Jugenderziehung der DDR“ in den Blick nahmen (Enquete-Kommission „Überwindung der Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, 1998, 253). Nach Ergebnissen der Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendhilfe zur Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR waren fast eine halbe Million Kinder und Jugendliche in den Jahren 1949 bis 1990 in Kinderheimen untergebracht, darunter etwa 135.000 Kinder, die in Jugendwerkhöfen oder sogenannten Spezialheimen gelebt haben, deren Ziel insbesondere die Umerziehung von „schwer erziehbaren Kindern“ war.

Durch die Publikation des Journalisten Peter Wensierski „Schläge im Namen des Herrn“ (2006) rückten auch Gewaltausübungen in Kinderheimen in kirchlicher Trägerschaft in der Bundesrepublik in den Fokus der Öffentlichkeit. Eine Anhörung vor dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages 2008 verschaffte der Perspektive betroffener ehemaliger Heimkinder erstmals politisches Gehör: Im Februar 2009 wurde der „Runde Tisch Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“ der BRD eingerichtet, seit 2012 ermöglichte der sog. „Fonds Heimerziehung in der Bundesrepublik Deutschland in den Jahren 1949–1975“ eine finanzielle Entschädigung für erlebtes Leid in Kinderheimen; entsprechende Anlauf- und Beratungsstellen wurden in allen westdeutschen Bundesländern eingerichtet. Eine von politischer Seite geförderte wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der ostdeutschen Heimerziehung und den möglicherweise dort verorteten Leiderfahrungen kam erst verzögert in Gang. Im Rahmen eines Forschungsprojekts zu den Berliner Kinderheimen, das sowohl ehemals „westdeutsche“ als auch „ostdeutsche“ Kinderheime in den Blick nahm, trat das Forschungsdesiderat der DDR-Heimerziehung besonders deutlich zu Tage. Drei Expertisen zur Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR wurden daraufhin angefertigt, die sich mit Rechtsfragen, Erziehungsvorstellungen und der Frage möglicher Hilfen für ehemalige Heimkinder mit komplexen Traumatisierungen befassten. Auf der Grundlage der Expertisen wurde im März 2012 ein Abschlussbericht zur Aufarbeitung der Heimerziehung in der DDR von der Bundesregierung und den ostdeutschen Ländern verfasst.

Expertisen und Abschlussbericht bildeten die wissenschaftliche Grundlage, die – 6 Monate nach Beginn der Laufzeit des westdeutschen Fonds – zur Einrichtung eines zweiten Fonds zur Entschädigung von ehemaligen Heimkindern der DDR führte. Das Angebot der finanziellen Entschädigung wurde flankiert mit dem Angebot der psychosozialen Begleitung im Rahmen von Anlauf- und Beratungsstellen in allen neuen Bundesländern. Die noch im gleichen Jahr erschienene Monographie „Einführung. Heimerziehung der DDR“ von Anke Dreier und Karsten Laudien wendete sich im Besonderen an Mitarbeiter dieser spezifischen bundesweiten Beratungsstellen aber auch an Rehabilitierungskammern der Landgerichte, an Versorgungsämter und Kliniken der Psychiatrie und Psychotherapie. Innerhalb der zurückliegenden zehn Jahre konnten verschiedene Studien zur Rekonstruktion einzelner Heimtypen durchgeführt werden. Eine für die Stiftung Anerkennung und Hilfe durchgeführte Studie nahm exemplarisch das Leid und Unrecht in den Blick, das Kinder in Heimen der Behindertenhilfe und in Psychiatrien erleben mussten (Fangerau H, Dreier-Horning A, Hess V, Laudien K, Rotzoll 2021). Die Erforschung der individuellen Perspektiven und Erfahrungen ehemaliger Heimkinder steht jedoch weiterhin am Anfang; auch blieben die Stimmen von Heimmitarbeiter:innen unterschiedlicher Professionen weitgehend ungehört. Insbesondere das Erleben von Gewalt und der biographische Umgang mit Traumatisierungen im Kontext von Heimerfahrung ist bislang noch wenig erforscht worden.

Hier setzte das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (2019–2022) geförderte interdisziplinäre Forschungsprojekt Testimony an, dessen Name darauf hindeutet, dass den Erinnerungen der Betroffenen, auch im Sinne eines partizipativen Forschungsansatzes, besondere Bedeutung beigemessen werden sollte. Es zielte neben der Aufarbeitung auch auf die Entwicklung von Bewältigungsansätzen.

In vier disziplinär unterschiedlichen Teilprojekten untersuchte das Projekt die Lebensbedingungen und Erfahrungen in Kinderheimen und Jugendwerkhöfen der DDR. Dabei wurde an der Universität Leipzig (Prof. Heide Glaesmer, Verbundleitung) eine Fragebogenstudie durchgeführt, an der über 270 Menschen mit Heimerfahrung einen umfassenden Fragebogen ausfüllten und z.T. erstmalig in ihrem Leben darüber berichteten, wie ihre individuellen Erlebnisse im Heim ihren späteren Lebensweg geprägt haben. Die Studienteilnehmer:innen, die über Erlebtes aus allen Heimtypen der DDR berichteten, entwarfen ein sehr heterogenes Bild: Das Spektrum reichte von positiven Kindheitserfahrungen im sog. Normalheim bis hin zu Berichten über massive Vernachlässigung und Gewalt in sog. Spezialheimen der DDR.

An der Medical School Berlin (2. Teilprojekt, Prof. Birgit Wagner) wurde eine webbasierte Schreibtherapie basierend auf dem narrativen Ansatz der Lebensrückblicktherapie zur Unterstützung ehemaliger DDR-Heimkinder entworfen. Menschen mit Heimerfahrung schrieben in einer 6-wöchigen Intervention ihre Erinnerungen an die Heimerziehung auf. Dabei wurde deutlich, dass durch das Programm eine individuelle Verbesserung im Umgang mit den traumatischen Erlebnissen erreicht werden konnte.

Im Rahmen des dritten Teilprojekts an der Alice-Salomon Hochschule für Soziale Arbeit (Prof. Silke Gahleitner) wurden 20 lebensgeschichtliche Interviews mit Menschen mit Heimerfahrung insbesondere nach physischen, psychischen und sexuellen Gewalterfahrungen geführt und ausgewertet. Die Betroffenen berichteten über ein weites Spektrum unterschiedlicher, vor allem psychosozialer Folgeerscheinungen. Im Zentrum der Auswertung stand die Frage, wie Betroffene die Unterstützungsangebote bspw. im Rahmen des Heimfonds erlebt und bewertet haben und welche Konsequenzen hieraus für zukünftige Unterstützungsangebote zu ziehen sind.

Ein medizinhistorisches Teilprojekt an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf (Prof. Heiner Fangerau) zielte schließlich auf eine historische Perspektivierung der medizinischen und psychologischen Betreuung in DDR-Kinderheimen. Im Zentrum stand die Untersuchung des sog. „Kombinats der Sonderheime für Psychodiagnostik und pädagogisch-psychologische Therapie“, einer Heimform, die zumindest im eigenen Anspruch eine programmatische Nähe zu Medizin und Psychologie aufwies. Diese Institution, die 1964 für die Behandlung von „verhaltensgestörten Kindern“ geschaffen wurde, bestand aus einer Aufnahmeabteilung und vier angeschlossenen Heimen im Umland von Berlin. Während eines mehrwöchigen stationären Aufenthaltes in der Aufnahmeabteilung erfolgte zunächst eine aufwendige Psychodiagnostik, bevor eine Entscheidung über die weitere, zumeist mehrjährige Aufnahme eines Kindes in eines der vier Heime getroffen wurde. Im Rahmen des Projekts wurden zum einen leitfadengestützte Interviews mit ehemaligen Heimmitarbeiter:innen aus den Fachbereichen Psychologie, Medizin und Pädagogik geführt. Zum anderen wurde eine Akten- und Dokumentenanalyse von Jugendhilfe- und Schülerakten durchgeführt, die individuelle Wege von der Einweisung über die Diagnostik bis hin zur psychologischen Therapie der Kinder verfolgte und insbesondere individuelle Heimbiographien beleuchtete. Es zeigte sich eine erhebliche Diskrepanz zwischen dem eigenen therapeutischen, einen Schutzraum bietenden Anspruch der Institution und einem von Enge, Ressourcen- und Personalmangel geprägtem Alltag. Damit unterschieden sich die Zustände in dieser Heimeinrichtung nicht wesentlich von denen in anderen Einrichtungen der Kinder- und Jugendfürsorge sowohl in der BRD als auch in der DDR. Die Ergebnisse aller Teilprojekte der Studie werden in einer gemeinsamen Monographie 2023 erscheinen.

Dr. Anne Oommen-Halbach

Mitglied der Historischen Kommission der DGKJ