Beitrag_Lilienthal_MoKi_02_2023



Der SS-Verein „Lebensborn“ und die Frage der Entschädigung von Raubkindern

[Beitrag Monatsschrift Kinderheilkunde 02/2023, Mitteilungsseiten. Hier mit Literaturverweisen]

1936 wurde in Steinhöring, nicht weit von München, ein Entbindungsheim eröffnet. Fotos zeigen, dass die Ausstattung auf dem Stand der Zeit war. Zur Einrichtung gehörte eine Entbindungsstation, eine Säuglingsstation, ein Operationssaal, Wöchnerinnenzimmer, Zwei- bis Vierbettzimmer für werdende Mütter, ein Speisesaal, ein Aufenthaltsraum und eine Sonnenterrasse. Fotos an der Wand von Hitler und Reichsführer-SS Heinrich Himmler verweisen darauf, dass es sich nicht um ein gewöhnliches Entbindungsheim handelte. Träger war nämlich der SS-Verein „Lebensborn“. Er bezeichnete seine Einrichtung, der in den folgenden Jahren noch acht weitere im ganzen Reich folgen sollten, nicht als Entbindungsheim sondern seinem Programm entsprechend als „Mütterheim“. Denn die Aufgabe des von Himmler ein Jahr zuvor gegründeten Vereins war die Unterstützung von „rassisch und erbbiologisch wertvollen werdenden Müttern“ und ihren Kindern, wobei er vor allem an unverheiratete Frauen dachte. Mit den Heimen wollte Himmler die Zahl der Schwangerschaftsunterbrechungen bekämpfen, um einen Beitrag zur Geburtenerhöhung zu leisten. Denn für die geplanten Kriegs- und Eroberungszüge brauchte das nationalsozialistische Deutschland ein schnelles Bevölkerungswachstum. Doch Himmlers Plan blieb maßlose Utopie. Seine Hoffnung, dass in naher Zukunft jährlich 100.000 zusätzliche Geburten durch vermiedene Abtreibungen zu verzeichnen seien, blieb unerfüllt. Bis Kriegsende kamen nur 7.000 bis 8.000 Kinder in den „Lebensborn“-Heimen zur Welt, davon 50 - 60% unehelich.

Dabei glaubte Himmler, die gesellschaftliche Diffamierung lediger schwangerer Frauen, die damals auf allgemein herrschenden Moralvorstellungen beruhte, umgehen zu können, wenn Schwangerschaft und Geburt geheim gehalten werden. Deshalb erhielten die Entbindungsheime des „Lebensborn“ eigene polizeiliche Meldestationen und Sonderstandesämter. Auf Wunsch unterdrückten sie unter Missachtung rechtlicher Vorschriften Rückmeldungen über Heimaufenthalt und Entbindung an die Heimatgemeinde sowie das Geburtsstandesamt der Mutter oder machten falsche Angaben über ihren Aufenthaltsort. Der „Lebensborn“ übernahm die Vormundschaft für die unehelichen Kinder und sorgte für die Zahlung der Alimente durch die Väter. Er unterstützte darüber hinaus die alleinerziehenden Mütter bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder Beschaffung einer Wohnung. Gegebenenfalls betreute er auch die Kinder. Zu diesen Zweck schuf er auch eigene Kinderheime.

Viele Mütter empfanden diese Maßnahmen als soziale Wohltat. In Wirklichkeit wurde aber ihre Notlage für die rassenpolitischen Zwecke des NS-Regimes ausgenutzt. Denn jede werdende Mutter, die sich um die Aufnahme in ein „Lebensborn“-Heim bewarb, musste sich einer rassischen Musterung unterziehen, ebenso der Kindesvater. Während ihres Heimaufenthaltes wurde sie ohne ihr Wissen rassisch beurteilt. Und ihr Kind wurde mit einer der christlichen Taufe nachempfundenen Zeremonie, der „Namensgebung“, in die „SS-Sippengemeinschaft“ aufgenommen.

Mit Beginn des Krieges im September 1939 riefen Himmler und der „Stellvertreter des Führers“ Rudolf Hess in einer Weihnachtsbotschaft die Soldaten dazu auf, mit ihren Bräuten und Freundinnen ohne Rücksicht auf eine Eheschließung Kinder zu zeugen. Sie sollten, bevor sie im Kampf fallen, wenigstens ihr „wertvolles Blut“ weitergegeben haben. Diese Aufforderung in Verbindung mit den Geheimhaltungsmaßnahmen des „Lebensborn“ und seiner SS-Trägerschaft führte schnell zu einem Gerücht, das sich teilweise bis heute gehalten hat, obwohl es die historische Forschung schon längst widerlegte: Der „Lebensborn“ sei angeblich eine Zeugungsstätte, in der SS-Männer und blonde blauäugige Mädchen und Frauen zusammengebracht wurden, um „dem Führer ein Kind zu schenken“. Durch den Aufruf von höchster Stelle fühlten sich auch nicht wenige SS-Führer berechtigt, außerhalb ihrer Ehe Kinder zu zeugen.

Der Krieg brachte neue Anforderungen an den „Lebensborn“ mit sich. Mit den Eroberungen durch die Wehrmacht expandierte er in besetzte Gebiete. In Norwegen erzielte er das Monopol bei der Betreuung von rund 12.000 unehelichen Kindern norwegischer Frauen und deutscher Soldaten. Für sie wurden zehn Entbindungs- und Kinderheime errichtet. In Belgien und Frankreich wurde jeweils ein Entbindungsheim in Betrieb genommen.

Der „Lebensborn“ war auch in die Eindeutschungspolitik geraubter Kinder eingebunden, deren Zahl bis zu 50.0000 geschätzt wird, vom Säuglings- bis zum Jugendalter. Die Kinder wurden ihren Eltern oder Erziehungsberechtigten entrissen und nach einer rassischen Musterung nach Deutschland verschleppt. In speziellen Lagern und Heimen sollten sie Deutsch lernen und zu deutschen Menschen erzogen werden. Von der Zwangsumerziehung waren vor allem polnische Kinder betroffen, aber auch tschechische, slowenische und Kinder aus der Sowjetunion. Der „Lebensborn“ übernahm rund 350 Kinder aus diesen Ländern und 250 aus Norwegen, zunächst im Vorschulalter, dann auch darüber hinaus. Von den Eindeutschungsstationen wurden sie in Kinderheime des Vereins gebracht, von denen er inzwischen zwei weitere eröffnet hatte. Dort waren die älteren Kinder drakonischen Erziehungsmaßnahmen ausgesetzt. Z. B. war ihnen unter Androhung schwerer Strafen verboten, ihre Muttersprache zu sprechen. Nach einer Zeit der Umerziehung vermittelte der „Lebensborn“ die Kinder in deutsche Pflegefamilien mit der Absicht einer späteren Adoption.

Nach dem Krieg suchten die Eltern, Angehörige und der Internationale Suchdienst in Arolsen nach den geraubten Kindern. Dies war nicht einfach, da sie mit Aufnahme in eine Pflegefamilie deutsche Vor- und Nachnamen erhielten, falls ihre Namen nicht schon vorher eingedeutscht worden waren. Dadurch konnten zahlreiche Suchfälle bis heute nicht geklärt werden. Da die Kinder unerkannt in Deutschland blieben, erfuhren einige erst nach Jahrzehnten von ihrer ausländischen Herkunft, viele werden es nie erfahren. Das Schicksal der Raubkinder ist in Deutschland wenig bekannt. Nach der gewaltsamen Trennung von Eltern und Familie verbrachten die meisten von ihnen ihre wichtigsten Entwicklungsjahre alleingelassen in wechselnden Lagern und Heimen, viele bis zu vier Jahren. Manche sind daran seelisch zerbrochen. Kinder, die in Pflegefamilien aufwuchsen und als Raubkinder identifiziert wurden, mussten zurück in ihre Heimatländer. Damit erfuhren sie eine zweite Trennung von Menschen, die sie oftmals als liebevolle Eltern erlebt hatten und ein weiteres Mal den Verlust ihrer jetzt deutschen Identität. Die Ankunft im Heimatland war meistens ebenfalls mit viel Schmerz verbunden. Hier erfuhren sie oftmals, dass Vater oder Mutter oder beide Eltern Opfer nationalsozialistischer Verfolgung und Gewalt geworden waren. Deshalb wurden sie bei Verwandten untergebracht. Manche endeten im Waisenhaus. Die Integration in die für sie fremde Umgebung fiel ihnen schwer. Sie mussten die Sprache ihres Geburtslandes erst (wieder) mühsam erlernen. Infolgedessen wurden sie in der Schule und von Nachbarskindern gehänselt. Sie blieben für viele Jahre, wenn nicht sogar für ihr ganzes Leben ausgegrenzt, blieben Fremde in ihrem Mutterland.

Die Raubkinder leiden unter diesen traumatischen Erfahrungen bis heute. Den Raub von Kindern und ihre zwangsweise Umerziehung zu einer neuen nationalen Identität definiert die Völkerrechtskonvention der UN „über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ von 1948 als Teil des Völkermords. Und dennoch hat bislang jede Bundesregierung eine Entschädigung für sie abgelehnt, da sie keine NS-Opfer im Sinne des Bundesentschädigungsgesetzes seien. Bei ihnen handele es sich um ein „allgemeines Kriegsfolgenschicksal“. Diese monetär gesteuerte Argumentation empört und verbittert die Raubkinder. Ihnen geht es nicht so sehr um eine finanzielle Entschädigung als um die offizielle Anerkennung des ihnen zugefügten Leides.

Aufgrund einer Petition des Freiburger Vereins „Geraubte Kinder – vergessene Opfer“ haben sich Landesregierung und Landtag von Baden-Württemberg entschieden, einen anderen Weg zu gehen. Ende 2022 hat das Land als „Zeichen der Anteilnahme und der Wiedergutmachung“ beschlossen, jedem Raubkind einmalig 5.000 € zu zahlen. Voraussetzung ist der heutige Wohnsitz in Baden-Württemberg oder der Aufenthalt währenden des Zweiten Weltkriegs auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes. Damit können auch Betroffene berücksichtigt werden, die nach dem Krieg repatriiert wurden und heute im Ausland leben. Inzwischen haben sich schon mehrere Raubkinder gemeldet.

Kinderraub ist kein einmaliges nationalsozialistisches Verbrechen. Es ist ein globales Verbrechen. In den USA, Canada und Australien wurden im 19. und 20. Jahrhundert tausende indigene Kinder zwangsweise aus ihren Familien geholt und in Internaten umerzogen. In Spanien raubte man während der Franco-Diktatur (1936 - 1975) ca. 300.000 Kinder und gab sie zur Adoption. In der DDR wurden wegen „Republikflucht“ verurteilten Eltern die Kinder weggenommen und in politisch zuverlässige Familien gegeben. Aktuell haben russische Behörden in den besetzen ukrainischen Gebieten über 2.000 Kinder verschleppt und wollen sie als „Waisen“ zur Adoption in russische Familien bringen. Die Aufklärung über das nationalsozialistische Verbrechen an Raubkindern ist eine Frage der historischen Wahrheit und symbolischen Wiedergutmachung. Gleichzeitig ist sie eine Notwendigkeit, um mit der Sensibilisierung der Öffentlichkeit Kinder besser vor Raub und Zwangserziehung zu schützen.

Dr. phil. et med. habil. Georg Lilienthal

Mitglied der Historischen Kommission der DGKJ


Weiterführende Literatur

Hopfer, Ines: Geraubte Identität. Die gewaltsame „Eindeutschung“ von polnischen Kindern in der NS-Zeit, Wien, Köln, Weimar 2010

Lilienthal, Georg: Der "Lebensborn e. V.". Ein Instrument nationalsozialistischer Rassenpolitik. 2. Auflage. (Frankfurt a. M.: Fischer TB 2008)

Skonieczny, Tomasz (Hg.): Uprooted. (Hi)stories of stolen children during World War II. 2022 ((99+) Uprooted. (Hi)Stories of Stolen Children during World War II | Tomasz Skonieczny - Academia.edu , aufgerufen am 25.12.2022)