Dresdener Erklärung



Dresdener Erklärung 1998

Die deutschen Kinderärzte gedenken ihrer verfolgten, aus dem Land getriebenen und ermordeten Kolleginnen und Kollegen 1933 - 1945

Dresden, 3. Oktober 1998.

Wir haben uns heute zusammengefunden, um an jene kinderärztlichen Kolleginnen und Kollegen zu erinnern, deren Existenzen in der Zeit des Nationalsozialismus aus politischen Gründen zerbrochen oder vernichtet wurden.

Wir wissen inzwischen, daß im Jahre 1933 nahezu jeder zweite Kinderarzt jüdischer Herkunft und deshalb von den politischen Ereignissen betroffen war. Nach langen Jahren des Schweigens wollen wir ihrer heute gedenken.

Im Namen der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin und der in ihr vereinigten deutschen Kinderärztinnen und Kinderärzte begrüße ich Sie und danke Ihnen, daß Sie unserer Einladung zu dieser Gedenkstunde gefolgt sind. An erster Stelle heiße ich besonders herzlich Sie, meine sehr verehrten Damen und Herren, willkommen, die Sie als Kinder der damals unmittelbar Bedrohten und Verfolgten das Schicksal der Vertreibung Ihrer Eltern aus Ihrem Geburtsland teilen mußten.

Wir glauben zu wissen, was es für Sie bedeuten muß, heute in diesem Kreise zu weilen, aus dem Ihre Eltern einst ausgestoßen worden waren. Umso mehr wissen wir es zu schätzen, daß Sie eingewilligt haben, heute unter uns zu sein.

Stellvertretend für alle unsere damals betroffenen Kolleginnen und Kollegen nehmen heute an dieser Gedenkveranstaltung teil:

· Frau Professor Dr. Eva Engel Holland aus Wolfenbüttel, Tochter des 1933 aus seinem Amt entlassenen Dortmunder Kinderklinikers Professor Dr. Stefan Engel;

 · Frau Gabriele Falk, die Tochter eines meiner Amtsvorgänger, des Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde des Jahres 1932, Professor Dr. Walther Freund aus Breslau. Er wurde 1933 aus dem Vorstand herausgedrängt. Frau Falk hat gemeinsam mit ihren beiden Söhnen die weite Reise aus den USA nicht gescheut, um zu dieser Gedenkstunde unter uns zu sein;

· Frau Professor Dr. Monica Schweiger aus Innsbruck,Tochter des damaligen Breslauer Privatdozenten Professor Dr. Herbert Hirsch-Kauffmann;

· die Söhne des Düsseldorfer Ordinarius Professor Dr.Albert Eckstein und Frau Dr. Erna Eckstein, Ehrenmitglied unserer Gesellschaft, die Herren Klaus und Peter Albert Eckstein aus Cambridge/UK;

· Herr Professor Dr. Michael Schlesinger und seine Frau Gemahlin aus Jerusalem, Sohn von Dr. Justus Schlesinger aus Frankenthal bei Worms. Zwei der Nachfahren deutscher jüdischer Kinderärzte, die wir einladen durften, gehören zu den großen europäischen Versöhnern der Nachkriegszeit:

· Sie, Herr Professor Dr. Alfred Grosser, haben gelegentlich mit Recht beklagt, daß die deutsche Kinderheilkunde von der Vertreibung und vom baldigen Tod Ihres bedeutenden Vaters, Professor Dr. Paul Grosser aus Frankfurt a.M., keine Notiz genommen hat. Daß Sie dennoch - oder gerade deshalb - eingewilligt haben, diese Gedenkstunde aktiv mitzugestalten, erfüllt uns mit großer Dankbarkeit;

· wie sehr Sie, Herr Dr. Paul Oestreicher, seit Jahren in beiden Deutschland um Frieden warben, weiß man auch gerade hier in Dresden, das mit seiner Schwesterstadt Coventry das Schicksal einer ebenso furchtbaren wie sinnlosen Zerstörung teilt. Sie haben von Ihrer dortigen Kathedrale aus ein weltweites Versöhnungswerk aufgebaut und ebenfalls keinen Moment gezögert, heute zu uns zu sprechen. Dafür danke ich auch Ihnen herzlichst.

Vertreter des öffentlichen Lebens ehren mit Ihrer Anwesenheit unser Anliegen. An ihrer Spitze · der Herr Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, Herr Professor Dr. Kurt Biedenkopf; · der Herr Landesrabbiner des Freistaates Sachsen, Herr Almekias-Siegl; · als Vertreter der Bundesärztekammer Herr Dr. Schwenk, Vizepräsident der Landesärztekammer des Freistaates Sachsen.

Unter allen denen, die einzeln zu begrüßen die Zeit fehlt, möchte ich noch besonders Herrn Professor Dr. Dr. Alfred Drukker aus Jerusalem und den Präsidenten der der Israel Pediatric Association, Herrn Kollegen Dr. Manuel Katz vom Soroka Medical Center, Beer Sheva, Israel nennen.

· Herr Professor Drukker erlebte als holländisches Kind nicht nur die politische Verfolgung durch die deutsche Besatzung in den Niederlanden, sondern auch mit seiner Familie das Konzentrationslager Theresienstadt;

· die Anwesenheit von Herrn Kollegen Dr. Katz steht für uns auch stellvertretend für alle Emigrationsländer, die deutschen jüdischen Kinderärztinnen und Kinderärzten und ihren Familien Zuflucht gewährten.

 

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin hat zu ihrer eigenen Vergangenheit in der Zeit des Nationalsozialismus sehr lange geschwiegen.

Um mit einem Wort des früheren KZ-Häftlings und amerikanischen Psychologen Bruno Bettelheim zu sprechen, mögen “...die richtige räumliche Entfernung vom Entsetzen und die richtige räumliche Nähe zur Hoffnung...” lange Zeit nicht bestanden haben.

So hat unsere Fachgesellschaft erst auf ihrer 90. Jahrestagung im Jahre 1994 die Last der Vergangenheit thematisiert. Ein Jahr später, d.h. 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, erteilte sie ihrer Historischen Kommission und insbesondere Herrn Prof. Seidler den Auftrag, die Rolle der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde in der Zeit des Nationalsozialismus kritisch zu reflektieren und den Schicksalen ihrer jüdischen Kolleginnen und Kollegen nachzugehen.

Die Ergebnisse sind erschütternd und werden der Öffentlichkeit detailliert vorgelegt werden.

Vor diesem Hintergrund gibt der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Kinderheilkunde und Jugendmedizin heute folgende Erklärung ab:

Die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde hat in der Zeit des Nationalsozialismus Schuld auf sich geladen. Herausragende Fachvertreter haben sich der politisch verhängnisvollen Doktrin der “Rassereinheit” und der völkischen Gesundheitspolitik der nationalsozialistischen Jugendführung zur Verfügung gestellt. Die Mehrzahl der deutschen Kinderärztinnen und Kinderärzte jener Generation hat die Zerstörung der Existenz von über 700 jüdischen oder politisch mißliebigen Kolleginnen und Kollegen widerstandslos geduldet. Sie und auch die Angehörigen der unmittelbaren Nachkriegsgeneration haben dazu geschwiegen. Dieses öffentlich festzustellen und zu bedauern, aber vor allem die Erinnerung an die Schicksale unserer politisch verfolgten, vertriebenen und ermordeten Kolleginnen und Kollegen für zukünftige Generationen wach zu halten, ist das besondere Anliegen dieser Gedenkstunde.

 Durch diese Erklärung kann die Last der Vergangenheit nicht vergessen gemacht werden; sie ist überhaupt nicht vergessen zu machen, sondern anzunehmen.

Sie muß weiter ertragen und auch weiter getragen werden. Dabei sollten wir - nochmals Bruno Bettelheim folgend - nicht vergessen, “...daß uns die Fähigkeit, sich schuldig zu fühlen, zu humanen Menschen macht.” Mit dem polnisch-jüdischen Soziologen Zygmunt Baumann kann es auch so formuliert werden: “ Die aktuelle Bedeutung des Holocaust liegt darin, welche Botschaft er für die Humanität enthält.”

Die Scham, die uns in der Erinnerung an die damaligen Ereignisse bedrückt, ist nicht geringer geworden. Sich zu ihr zu bekennen und sie zu ertragen, mag uns helfen, mit wachem Bewußtsein der Zukunft entgegenzusehen.

Prof. Dr. Lothar Pelz (Rostock)
von 1997-1999 Präsident der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin